Am 13.04. 2023 hat der 9. Jahrgang des Gymnasiums Soltau unter der Leitung von Frau Dr. Gerdes am Oeninger Weg eine Gedenkfeier zur Erinnerung an die Juden, die in den Konzentrationslagern gefoltert und ermordet worden sind, gehalten. Im Mittelpunkt stand das Schicksal der KZ-Häftlinge, die im April 1945 in Soltau aus Transportzügen fliehen konnten und in den folgenden Tagen im Stadtgebiet von Soldaten der Wehrmacht und Soltauer Bürgern verfolgt und erschossen wurden.

 

Der Geschichtskurs von Frau Dr. Gerdes hat sich einige Wochen auf den Gedenktag vorbereitet. Die Schülerinnen und Schüler haben Reden verfasst, in denen sie über den 10. und 11. April 1945 berichtet  haben. Die drei besten Reden wurden ausgewählt und am Gedenktag von den Schreiber/innen Noah von Wieding, Paula Wystub und Lina Marie Petschull vorgetragen. Um 9.00 Uhr traf der Geschichtskurs bestehend aus den Klassen 9L1 und 9FL am Ort der Gedenkfeier ein, um das Mahnmal und die Anlage zu säubern. Zur Gedenkfeier um 10.30 Uhr kamen zu Ehren des traurigen Schicksals der Juden der Schulleiter des Gymnasiums Soltau, Volker Wrigge, der Bürgermeister von Soltau, Olaf Klang und der Landesabgeordnete der CDU, Karl-Ludwig von Danwitz sowie mehrere Mitglieder des Rates der Stadt und der Geschichtskurs von Herrn Hanebuth. Daraufhin wurden die ausgewählten Reden vorgetragen und ein Kranz wurde zu Ehren der verstorbenen Juden von Leni Heine und Celina Trehkopf niedergelegt. Im Anschluss legten einige Schüler/innen noch Rosen auf die Stelen des Mahnmals, um den Juden, die im Zweien Weltkrieg ermordet wurden, eine Ehre zu erweisen.

 

EINLEITENDE REDE VON NOAH VON WIEDING:

Werte Damen und Herren, lieber Bürgermeister, liebe Schülerinnen und Schüler:

Wir haben uns heute an diesem besonderen und geschichtsträchtigen Ort eingefunden, um an Geschehnisse zu erinnern, damit sie so nie wieder vorkommen.

Vor nun fast 78 Jahren zum Ende des Zweiten Weltkrieges wurden Soltau und seine Bevölkerung Zeuge von schrecklichen Kriegshandlungen: Zu dieser Zeit wurden zahlreiche frontnahe Konzentrationslager aufgelöst und deren Häftlinge in andere Lager deportiert. Ein Großteil dieser Menschen sollte nach Bergen-Belsen gebracht werden und viele der Transportzüge fuhren durch Soltau. Wenn der Fliegeralarm ausgelöst wurde, kamen die Züge für längere Zeit zum Halten und so konnten Insassen aus den offenen Güterwaggons entfliehen. Die meisten jedoch waren dazu nicht mehr fähig, da sie zu ausgehungert und entkräftet waren. Die, die es schafften, flüchteten in die Umgebung und suchten Schutz und Hilfe bei den Soltauer Bürgern. Trotz etlicher Hilfeleistung stand die Bevölkerung derart unter Angst und Druck, selbst verfolgt zu werden, dass leider viele der Geflohenen an die Polizei verraten wurden.

Um die angeblichen “ Schwerstverbrecher “ wieder festzunehmen, hatte der HJ-Führer zu einer sogenannten „Jagd“ aufgerufen, an der Wehrmachtssoldaten und Soltauer Bürger beteiligt waren. Die gefassten Häftlinge wurden entweder vor Ort erschossen oder zu einem Sammelpunkt abgeführt und meist noch am selben Tag exekutiert. Dazu brachten Wehrmachtsangehörige, aber auch Jugendliche der Hitlerjugend und des Bunds Deutscher Mädchen sie zur Sandkuhle am Lönsweg, wo sie ermordet und verscharrt wurden.

Deshalb stehen wir heute hier, um an die vielen Menschen zu gedenken, die hier ihr Leben auf so würdelose Art verloren haben.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

 

GEDENKREDE VON LINA PETSCHULL:

Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrter Herr Bürgermeister Klang, wir sind heute hier, um uns daran zu erinnern, was sich am 11.04.1945 hier in Soltau ereignet hat. Wir denken heute nicht nur an die über 90 Opfer, die im Bereich Soltau gejagt und schließlich erschossen wurden, sondern auch an alle anderen Menschen, die Opfer des Nationalsozialismus geworden sind und auch an diejenigen, die heute beispielsweise wegen ihrer Herkunft verfolgt werden. Wir wollen aber auch diejenigen nicht vergessen, die damals und auch heute den Verfolgten geholfen haben und zu deren Erinnerung direkt neben dem Mahnmal für die Opfer unter einer Säulenbuche eine Gedenktafel gelegt wurde.

Es ist eine Tatsache, dass über 90 dieser flüchtenden Häftlinge, alle männlich, von Soltauern aufgespürt, gejagt und schließlich erschossen wurden. Häftlinge, die schwer erkrankt und entkräftet, teilweise halb verhungert waren und die es mit letzter Kraft geschafft hatten, von der Fahrt in den sicheren Tod in den Transport-Zügen zu fliehen. In unserer Stadt wurden hilflose Menschen, die bei uns Schutz gesucht haben, bewusst und gezielt getötet. Soltauer Mütter haben sich darüber aufgeregt, dass diese Menschen vor den Augen ihrer eigenen Kinder durch die Stadt getrieben wurden, statt den Häftlingen zu helfen.

Die Soltauer Stelen sind ein Mahnmal: Sie sollen uns heute und in Zukunft noch dazu anhalten, uns nicht nur zu erinnern, sondern uns dazu bringen, alles zu tun, um zu verhindern, dass sich in der Welt oder aber in unserem persönlichen Umfeld solche Ereignisse wiederholen. Sie sind Musterstelen des Architekten Peter Eisenman und die Vorlage für die 2711 Exemplare des Stelenfeldes in Berlin. Wir stehen gleichzeitig vor einer Gedenktafel, durch die wir daran erinnert werden, dass es auch Menschen gab, die damals geholfen haben. Beide Erinnerungen sind wichtig, denn beide Ereignisse gehören zur Geschichte unserer Stadt. Sie heute verdrängen zu wollen, wäre ein Wegsehen: Das durfte weder 1945 geschehen und noch darf das heute sein.

In Artikel 1 unseres Grundgesetzes wurde festgeschrieben, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Das deutsche Volk hat sich bewusst zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt bekannt. Was dieses heißt, können wir heute nur verstehen, wenn wir uns an die Ereignisse im 2. Weltkrieg erinnern.

Anne Frank, die zur selben Zeit als Jugendliche in Bergen-Belsen verstarb, hatte den Mut, ein Tagebuch zu schreiben, in dem wir bis heute über die Unmenschlichkeit des Nationalsozialismus nachlesen können. Auch sie wurde verraten, verhaftet und schließlich mit einem Transportzug nach Bergen-Belsen gebracht. Sie hatte keine Chance, während der Zugfahrt zu fliehen. Hätten wir Soltauer ihr damals geholfen oder wäre auch sie in unserer Stadt ermordet worden? Sie verstarb im Konzentrationslager Bergen-Belsen 30 km von Soltau entfernt an einer Krankheit, völlig geschwächt und fast verhungert.

Jeder von uns sollte sich fragen, was er dazu beitragen kann, dass in unserer Zeit Menschen eben nicht wegen ihrer Herkunft oder anderer Gründe ausgegrenzt, verfolgt oder sogar getötet werden. Wir sollten uns daran erinnern lassen, dass Ausgrenzung und Verfolgung oft im Kleinen beginnen, im Alltag, in der Schule. Wir sollten den Mut haben, uns gegen diejenigen zu stellen, die ausgrenzen und nicht helfen wollen und diejenigen unterstützen, die ausgrenzt werden. Daran soll uns das Mahnmal erinnern und die Erinnerungstafel soll uns dazu ermutigen.

Wenn wir vergessen wollen und lieber wegschauen, haben wir eine große Chance verpasst, aus der Vergangenheit zu lernen.

Auch im Nationalsozialismus haben sich Menschen gewehrt:

Bekannte Gruppen wie die Mitglieder der „Weißen Rose“, die hierfür teilweise mit dem Leben bezahlt haben, Mitglieder der Kirche wie der Pastor Dietrich Bonhoeffer, der selbst im KZ ermordet wurde, aber auch einzelne Bürgerinnen und Bürger aus Soltau.

Wir leben in 2023 und müssen erleben, wie die russische Regierung seit dem Einfall in die Ukraine im Februar 2022 morden lässt. Viele Ukrainer sind geflohen und einige von ihnen leben hier in Soltau.

Es ist die Aufgabe von jedem von uns, diese Menschen, die ihre Heimat und oft noch mehr verloren haben, aufzunehmen und ihnen Schutz zu bieten.

Nehmen wir diese Aufgabe wahr? Wissen die heutigen Bürger der Stadt Soltau noch, was am 11.04.1945 geschehen ist oder werden die schrecklichen Ereignisse weiterhin verdrängt und verschwiegen? An welchem Punkt sind wir jetzt, 16 Jahre nachdem der Initiator und Soltauer Wilfried Worch-Rohweder das Mahnmal errichtet hat? Verdrängen wir oder lernen wir aus der Vergangenheit?

Ich wünsche mir, dass das Mahnmal und die Erinnerungstafel uns motivieren und dazu ermutigen, uns mit der damaligen Zeit und insbesondere mit den Ereignissen in unserer Stadt am 11.04.1945 auseinanderzusetzen und daraus Konsequenzen für das eigene Leben und Verhalten zu ziehen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

GEDENKREDE VON PAULA WYSTUB:

Warum gedenken Wir?

„Ist es wirklich noch nötig?“ „Müssen wir wirklich noch gedenken?“ „Ist das alles nicht irgendwie übertrieben?“ Das alles sind Fragen, die gestellt werden, wenn man vom Holocaust spricht.

6 Millionen. 6 Millionen Juden sind umgekommen. Heute stehen wir hier am Gedenkmal für diese Opfer und ihre traurigen Schicksale. Stellen Sie und Ihr Euch einmal vor, ihr seid einer der Menschen, die in ein Konzentrationslager gebracht werden. Nur weil ihr das seid, was ihr seid. Ihr fahrt gerade über Soltau. Endstation:

Bergen-Belsen. Ihr seid mit über 100 Leuten in einem Waggon, auf den kleinsten Platz zusammengepfercht. In der Ecke liegen die Körper derjenigen, die es nicht mehr geschafft haben. Ausgehungert und müde. Allein und voller Angst vor den Nazis und was sie einem antun könnten. Erwartet einen sofort den Tod? Muss ich erst viele Jahre schuften, um dann wirklich „frei“ zu werden? Was ist mit meiner Familie? Mutter? Vater? Bruder? Schwester? Sind die vielleicht schon längst tot?

Aber durch all diese traurigen, schwarzen und Angst machenden Gedanken gibt es einen Lichtblick. Einen Hoffnungsschimmer. Es gibt eine Situation, einen klitzekleinen Moment, der die Freiheit verspricht. Ihr nutzt die Gelegenheit und flüchtet. Ihr seid frei.

Aber ihr habt seit Tagen nichts mehr gegessen, eure Klamotten sind zerrissen und durchlöchert. Euch ist furchtbar kalt und ihr habt das Gefühl nicht länger als 100m auszuhalten.Trotzdem schafft ihr es, ihr seid davongekommen. Ihr versteckt euch, da wo ihr denkt, „Hier bin ich sicher. Hier findet mich keiner“. Doch ihr liegt falsch. Ein oder zwei Stunden später leuchtet euch was entgegen. Ihr seht ein Gesicht. Ausdruckslos, nur mit einem abgestumpften Blick und kein Funken Mitleid. Ein Bürger aus Soltau, kurz habt ihr Hoffnung. Vielleicht hilft er mir, gibt mir was zu Essen oder ein halbwegs heiles Kleidungsstück.

Das alles sind Gedanken, die ihr in dem Moment habt. Aber ihr guckt an dem Mann hinunter und euch wird klar, dieser Mann wird euch nicht helfen. Kein bisschen.

In seiner Hand hält er eine Waffe. Da wird euch bewusst, dieser Mann ist gekommen, um mich zu jagen, wenn ich nicht schon zu schwach bin, um wegzulaufen. Ihr guckt euch in die Augen und dann drückt er ab. Ein Leben ist vorbei. Die Leiche wird in diesen Wald geworfen. Die Familie bekommt nichts mit von eurem Tod. Wenn man fragt, „Ist es wirklich noch nötig zu gedenken“, dann muss man sich überlegen, was man denkt, wieviel Wert das eigene Leben hat.

Die Perspektive, aus der ich gerade geredet habe, erzählt das Schicksal eines Menschen.Dies ist aber noch 6 Millionen anderen passiert. 6 Millionen ermordeter Familien, Kinder, Männer und Frauen. Alle diese Menschen hatten ein eigenes Leben, ihre eigenen Erfahrungen und ihre eigenen Geschichten. Das Leben dieser Menschen ist es wert. Anstatt zu fragen „Ist es noch nötig“, sollte man fragen, „Ist es schon genug?“, weil solche Fragen zeigen, dass manche Menschen noch nicht genug wissen über das Leid, was hier und noch an vielen anderen Orten passiert ist.

Es ist unfassbar wichtig, dass wir weiter gedenken, um nicht nur Respekt zu zeigen vor den Toten, sondern auch um zu erinnern. Erinnern, an die Menschen, die nicht mehr ihre Geschichte erzählen konnten. Erinnern, an die Kinder, die zu früh sterben mussten. Erinnern, an die Familien, die auseinandergerissen wurden und nie wieder zusammengefunden haben. Das Denkmal, vor dem wir stehen, gibt zu verstehen, dass wir alle versuchen können, Respekt zu zeigen und nicht nur einmal im Jahr, wie heute, sondern immer.

Wir sind es den Opfern schuldig, darum gedenken wir.

 

In Gedenken an die Opfer bitten wir jetzt um eine Schweigeminute.